Deutscher Booklet-Text (Beiheft) zur Marx-CD Volume 3 ("Wiener Serenaden"; ASV CD DCA 1158)

Als Joseph Marx (1882-1964) von Wilhelm Furtwängler im Jahre 1952 als "Führer des musikalischen Österreich" bezeichnet wurde, war seine rund 50-jährige Schaffensphase als Komponist bereits zu Ende, doch seine schillernde Karriere als eine der bedeutendsten Persönlichkeiten des österreichischen Musiklebens im Zwanzigsten Jahrhundert hatte inzwischen mehrere Musikergenerationen geprägt.

Von der großen Mehrheit seiner Zeitgenossen in Österreich über alle Maßen verehrt, genoß Marx auch innerhalb der internationalen Gemeinde einen unumstrittenen Ruf als bedeutender Komponist und Pädagoge. So zählten auch zahlreiche sehr unterschiedliche Figuren der Musikszene wie z.B. Nicolai Medtner, Kaikhosru Shapurji Sorabji und Pablo Casals zu den Bewunderern von Joseph Marx. Die russisch-kanadische Komponistin Sophie Carmen Eckhardt-Grammaté (1902-74) schrieb beispielsweise, daß Marx' Werke "Epoche gemacht" hätten, und Nicolai Medtner - einer der wichtigsten Repräsentanten der Moskauer Komponistengruppe um Sergej Rachmaninov, Alexander Scriabin und Sergej Tanejew - verlieh seiner Verehrung für Marx in einem Brief von 1949 mit folgenden Worten Ausdruck:

  "Meine Begegnung mit Ihnen war ein unerwartetes Geschenk, ein Zeichen, daß alles Unerwartete, Fantastische und ewig Romantische noch immer da ist, trotz aller Bemühungen der gegenwärtigen 'Kunst-Führer', das alles auszurotten."

Um zu verstehen, warum diesem so außerordentlich charismatischen und zu Lebzeiten gefeierten Komponisten eine derart große Bedeutung beigemessen wurde, muß man sich zunächst anschauen, welche Einflüsse das musikalische und geistige Leben des Joseph Marx geprägt haben.

Aus musikalischer Sicht war Marx in erster Linie ein Autodidakt. Als Jugendlicher war er von der Harmonik in den Werken von Claude Debussy, Alexander Scriabin und Max Reger fasziniert. Diese Geistesnähe findet man in vielen seiner früh entstandenen Lieder, aber auch in seinen impressionistisch-spätromantischen Orchesterwerken aus den Zwanziger Jahren. Das Denken des jungen Marx wurde geprägt durch Gespräche mit dem Erkenntnistheoretiker Alexius von Meinong (1853-1920) und später durch eine enge Freundschaft mit dem Experimentalpsychologen Vittorio Benussi (1878-1927). Mit ihm erforschte Marx die psychologischen Gesetzmäßigkeiten der Tonalität und brachte seine Ergebnisse in eine Dissertation mit dem Titel "Über die Funktion von Intervall, Harmonie und Melodie beim Erfassen von Tonkomplexen" (Marx schrieb später noch einige weitere Abhandlungen zur Musiktheorie). Sein Studium der Philosophie, Kunstgeschichte, Germanistik und Archäologie an der Grazer Universität, das er schließlich als Doktor der Philosophie zu Ende brachte, legte den Grundstein für die Entwicklung des einstigen Liederkomponisten aus der Steiermark zu einem aktiven und einflußreichen Vertreter und Beobachter der Musikszene Österreichs und Mitteleuropas.

Als Impressionist, der sich jedoch immer auch als "Romantiker" bezeichnete, hat Joseph Marx aus seiner tiefen Verehrung für die Urväter der Musik (Mozart, Schumann, Bach, Haydn, Schubert u.a.) nie ein Geheimnis gemacht. So verwendete er in manchen seiner eigenen Werke Variationen alter Themen, so z.B. in seinen Alt-Wiener Serenaden, in denen er Motive aus Werken von Carl Michael Ziehrer und Joseph Haydn zitierte, oder in den Streichorchesterwerken Partita in modo antico und Sinfonia in modo classico, mit denen Marx seinen musikalischen Vorbildern auf höchst eindrucksvolle Weise huldigte. Doch warum hat er gegen Ende seines kompositorischen Schaffens (ca. 1935-45) nicht mehr impressionistisch-spätromantisch, sondern hauptsächlich nur noch kammermusikartig frühromantisch-klassizistisch komponiert?

Hierbei handelt es sich genau um den Zeitraum, in welchem Mitteleuropa sich unter dem Einfluß des Nationalsozialismus zunehmend in politische Konflikte verstrickte und die Kunst - laut Joseph Marx eines der elementarsten Güter menschlicher Kultur - zunehmend an Bedeutung verlor (was Marx schon früh erkannt hatte). Der "neue" Stil, den er nun während dieser späten Phase seiner Komponistentätigkeit bevorzugte, war daher nicht nur eine Antwort auf die Musik der Avantgarde und ein pädagogischer Leitfaden für Jungkomponisten; Marx hat sich davon sicher auch erhofft, die hohen geistigen Werte, die er mit diesem klassischen Stil assoziierte, schützen und "in bessere Zeiten retten" zu können. Und seine Bemühungen blieben gewiß nicht ohne Erfolg. Für die Kompositionen aus seiner späten Schaffensphase erntete Marx dieselbe hohe Anerkennung wie auch schon für seine früh entstandenen Lieder, die ihn berühmt gemacht hatten.

Die Alt-Wiener Serenaden bilden ein Konglomerat aus vielem, was das "Österreichische" in der Musik ausmacht. Komponiert 1941/42, wurde dieses Werk am 14. April 1942 von Karl Böhm und den Wiener Philharmonikern uraufgeführt, denen der Komponist dieses Werk zu ihrem hundertjährigen Jubiläum widmete. Obgleich für ein recht großes Orchester konzipiert, klingen die Alt-Wiener Serenaden eigentlich eher kammermusikalisch. Der erste Satz Intrada in lebhaftem D-Dur zeichnet sich durch sein Formschema A-B-A-C-A aus. Volksmusikadaptionen findet man in der Aria, dem 2. Satz, vor. Es erklingt ein "Ländler" im gemächlichen Dreivierteltakt (schon bei Joseph Haydn wurden Volkstänze aus dem österreichisch-ungarischen Raum in die Kunstmusik integriert). Ein direkter Rückblick auf Haydn zeichnet sich im 3. Satz Menuett ab, denn hier wird das Thema des 3. Satzes aus Haydns 103. Sinfonie ("Paukenwirbel") aufgenommen. Beispiellos "wienerisch" geht es im 4. Satz zu, der eine rauschende Huldigung an den musikalischen Geist der österreichischen Hauptstadt darstellt.

Als das wohl atypischste Werk von Marx kann die Partita in modo antico für Streichorchester betrachtet werden (ursprünglich für Streichquartett 1937/38, arrangiert für Streichorchester 1945). Atypisch deshalb, weil hier kein einziger chromatischer Schritt und auch keine regellosen Dissonanzen auftauchen - und dies bei einem Komponisten, der sich noch bis Anfang der 1930er Jahre der farbreichen romantischen Überschwenglichkeit hingegeben hatte. Marx, der sich selbst einmal in seiner typisch humorvollen Art zu "lebenslänglichem vierstimmigem Satz" verurteilt hatte, versuchte hier, die Kirchenmodi mit der strengen linearen Satztechnik eines Palestrina oder Orlando di Lasso zu verknüpfen. Er stellt deutlich heraus, daß das Werk als eine Ehrung an die alten Meister der Vokalpolyphonie verstanden werden soll. Das "sinnvolle Zusammenwirken" der einzelnen Stimmen war für Marx von eminenter Bedeutung; er verweist in diesem Sinne auf den "Geigenden Eremiten" aus der "Böcklin-Suite" von Reger.

Der erste Satz, Allegro poco moderato, im mixolydischen Modus, zeichnet sich durch weitläufige Kadenzen mit interessanten harmonischen Wendungen aus. In der Form eines Sonatenhauptsatzes gliedert er sich in Exposition (Themenkomplex 1 - Überleitung - Themenkomplex 2), Durchführung, Reprise und Coda. Im zweiten Satz, Presto (nicht zu rasch), wird der dorische Modus als Grundlage genommen. Es entfaltet sich ein Scherzo im Taktschema 4+2, an das sich eine Kadenz anschließt. Auf diese folgt ein Trio mit pentatonischem Charakter, nach welchem das Scherzo wiederholt wird und eine Überleitung den Hörer in das zweite Trio führt. Schließlich wird nochmals das schnelle Temperament des Scherzos aufgenommen, um den Satz daraufhin in eine Coda münden zu lassen. Im archaischen "Phrygisch" ist der dritte Satz, Adagio molto, komponiert. Gleich zu Beginn fällt die Ähnlichkeit zum ersten Satz auf. Der vierte Satz, Vivace, schließt den Rahmen und steht wie der erste im mixolydischen Modus. Eine doppelte Fuge in Rondoform bildet ein strenges Gerüst; das Hauptthema der Fuge besteht aus einer geschickten Verarbeitung des Themas des Kopfsatzes. Der 4. Satz ist geprägt durch ein Wechselspiel zwischen kontrapunktischem Rausch und ruhigeren Durchgängen.

Die Sinfonia in modo classico (ursprünglich für Streichquartett 1940/41, arrangiert für Streichorchester 1944) präsentiert dem Hörer erneut einen Ausflug durch die Musikgeschichte Wiens. Wiederum ist die Form klassizierend in der Klarheit eines Haydn, doch die Tonsprache ist mehr dem Spätromantischen zugewendet. Eröffnet von einem Sonatenhauptsatz (Allegro con brio) in luftig-lockerem Charakter tastet sich die Sinfonia zu einem klagenden gesanglichen Adagio vor, in dem man kaum eine Orientierung zu spüren vermag. Der dritte Satz im Tempo di Menuetto läßt unverhüllt die enge Verwandtschaft zum dritten Satz der Alt-Wiener Serenaden durchschimmern, doch das an Haydn angelehnte markante Thema erscheint hier eine Quart tiefer. Der Finalsatz Poco Presto lässt wieder Fugentechnik erkennen. Wie im Schlußsatz der Partita wird hier das Kopfthema aus dem Sonatenhauptsatz aufgenommen.

Die Bezeichnungen "modo classico" und "modo antico" haben gewiß keine musiktheoretische Entsprechung, denn eine "klassische" oder "antike" Skala existiert nicht. Wie bereits erwähnt, stellen diese scheinbaren Tonartbezeichnungen einen Versuch dar, Werte und Ideale der Klassik und der Antike in die Entstehungszeit dieser Werke zu übermitteln und somit eine kulturelle Botschaft zu formulieren. Jedoch geht der tiefere Sinngehalt der Bezeichnungen noch weit darüber hinaus, denn auch in seinen Spätwerken unterließ Marx es nicht, seiner tiefen Bewunderung für die klassische und antike Historie Südeuropas Ausdruck zu verleihen, deren Essenz für ihn ewig jung zu bleiben schien. Und so war Marx auch in dieser Phase seines Schaffens überraschend progressiv, denn die Art, wie er Altes und Neues miteinander verschmelzen ließ, um daraus eine wahrhaftig zeitlose Kunst zu erschaffen, ist in der Tat beeindruckend. So brachte u.a. der große Cellist Pablo Casals Marx' Verdienste für die mitteleuropäische Musik mit folgenden Worten treffend zum Ausdruck: "Joseph Marx ist für die Erhaltung der Musikkultur der Zukunft absolut nötig."

© Berkant Haydin & Martin Rucker



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