Deutscher Booklet-Text (Beiheft) zur Marx-CD Volume 1 ("Natur-Trilogie" für Orchester; ASV CD DCA 1137)

Am 9. Mai 1952 schrieb der spätere österreichische Bundespräsident Franz Jonas dem Komponisten Joseph Marx (1882-1964) zu dessen 70. Geburtstag: "Ihr Ruf als der repräsentativste Vertreter der österreichischen Tonkunst in der Gegenwart ist weit über die Grenzen unseres Landes hinaus in der Welt verbreitet, und die vollendete Meisterschaft Ihrer musikalischen Schöpfungen hat Ihnen die bewundernde Anerkennung einer internationalen Anhängerschaft eingebracht."

Aus der Geschichte kennt man eine Vielzahl von Künstlern, die zu Lebzeiten kaum Beachtung fanden, inzwischen jedoch weltweiten Ruhm genießen oder gar zu einer festen Institution geworden sind. Bei Joseph Marx ist offenbar genau das Gegenteil eingetreten. Seine Stellung als eine der führenden Musikerpersönlichkeiten Österreichs war während der gesamten zweiten Hälfte seines langen Lebens unumstritten. Dennoch weiß man heute, abgesehen von den allgemein bekannten biographischen Daten und Lebensstationen, nur wenig über seine Leistungen und musikalischen Werke.

Als Schöpfer zahlreicher weltberühmt gewordener Lieder und durch seine jahrzehntelange Tätigkeit als international hochgeschätzter Musikpädagoge, Autor und Kritiker hatte der als Sohn eines Arztes in Graz geborene Joseph Marx einen nicht zu unterschätzenden Einfluß auf die Musik des 20. Jahrhunderts. Menschen, die ihn noch persönlich erlebt haben, berichten, daß er in der Wiener Musikszene über einen langen Zeitraum die unbestreitbare Schlüsselposition innehatte. Wie wir dank des von der österreichischen Nationalbibliothek in Wien verwalteten riesigen Briefnachlasses unlängst erfahren haben, war Marx außerdem die wichtigste Kontaktadresse für viele verfolgte, von der Deportation bedrohte oder vertriebene Musiker (z.B. Erich Wolfgang Korngold, Hugo Fleischmann, Ernst Kanitz oder Frederick Dorian) und spielte eine nachhaltige Rolle bei ihrer Etablierung im österreich der Nachkriegszeit. Zudem hat Marx nach 1945 mit großem Einsatz an der Wiederbelebung des polnischen Musiklebens mitgewirkt, das unter dem nationalsozialistischen Regime stark gelitten hatte.

Eine ganz andere Seite seiner Autorität zeigt sich darin, daß Marx der wohl einflußreichste und aktivste Gegner der von Arnold Schönberg begründeten "Neuen Wiener Schule" war. Als Jurymitglied bei verschiedenen Kompositionswettbewerben sowie als Kritiker für das Neue Wiener Journal und die Wiener Zeitung war Marx bei den Modernisten gefürchtet und fand in der Regel nur dann ein lobendes Wort für ihre Werke, wenn diese noch einigermaßen tonal gebunden waren. So ist es nicht verwunderlich, daß er seiner Philosophie, der Hörer könne Zwölftonmusik niemals "mit dem Herzen" verstehen, für immer treu geblieben ist. Dies ist nicht nur in seinen Kompositionen, sondern auch in seinem schriftstellerischen Vermächtnis, dem in seinem Todesjahr 1964 erschienenen anspruchsvollen Buch Weltsprache Musik, auf eindrucksvolle Weise dokumentiert.

In den Jahrzehnten nach seiner Ernennung zum Professor für Theorie an der Wiener Musikakademie im Jahre 1914 hatte Marx eine ungeheure Zahl beruflicher Aufgaben und Funktionen zu erfüllen. Da er zudem für seine enorme Hilfsbereitschaft bekannt war, wurden fast bis an sein Lebensende permanent Anfragen aller Art an ihn gerichtet, deren Bearbeitung ihn sicherlich einen beträchtlichen Teil seiner Lebenszeit gekostet hat. Trotzdem erteilte er in seiner Eigenschaft als Pädagoge sogar unentgeltlich Privatunterricht in seiner Freizeit, wenn Schüler einer zusätzlichen Förderung bedurften. Daher überrascht es sehr, daß der überaus populäre und vielbeschäftigte Marx nach seiner ersten, äußerst aktiven Schaffensperiode (bis 1916 ca. 150 Lieder sowie Orgel-, Kammer-, Chor- und Soloklaviermusik) überhaupt jemals wieder Zeit zum Schreiben größerer Werke fand.

Die Sommermonate, auf die seine kompositorischen Phasen meist beschränkt waren, verbrachte Marx mit Vorliebe in einem ruhig gelegenen Landhaus bei Graz, das ihm häufig auch als Treffpunkt mit Freunden diente (darunter viele namhafte Künstler wie Franz Schmidt, Leopold Godowsky, Franz Schreker, Wilhelm Kienzl und Anton Wildgans). Dort entstand zunächst das klangvolle und äußerst virtuos angelegte Romantische Klavierkonzert (1916-19), anschließend sein Hauptwerk, die Herbstsymphonie (1920-21), und danach - zur Zeit seiner neuen Funktion als Direktor der Musikakademie in Wien - die hier eingespielte Natur-Trilogie (1922-25). Es folgten weitere erfolgreiche Orchesterwerke wie z.B. die Nordland-Rhapsodie (1926-29), das zweite Klavierkonzert Castelli Romani (1929-30), Verklärtes Jahr für mittlere Singstimme und Orchester (1930-32) und die Alt-Wiener Serenaden (1941-42).

Bei der vorliegenden Aufnahme der Natur-Trilogie handelt es sich in doppelter Hinsicht um eine Weltpremiere. Obgleich vom Komponisten als dreisätziges, zusammenhängendes Werk entworfen, hatte die Komplexität der Stücke (vor allem der Symphonischen Nachtmusik und der Frühlingsmusik) zur Folge, daß von Anfang an keine Gesamtaufführungen vorgesehen waren. So wurden die Einzelwerke bis zu ihrer heutigen Wiederentdeckung niemals gemeinsam zur Aufführung gebracht. Wahrscheinlich als weitere Konsequenz der technischen Schwierigkeiten weisen die Partituren eine Reihe von Kürzungen auf. In dieser Form wurden die Stücke noch bis vor einigen Jahrzehnten gelegentlich aufgeführt, bis sie schließlich ganz aus den Konzertprogrammen verschwanden. Somit handelt es sich bei dieser Aufnahme nicht nur um die erste kommerzielle Einspielung, sondern sicherlich auch um die erstmalige Würdigung des Gesamtwerks in seiner kompletten Originalfassung.

Die Uraufführung der Stücke fand im Februar, März und Dezember 1926 unter der Leitung des Dirigenten Clemens Krauss in Frankfurt am Main und in Wien statt. In den folgenden Jahrzehnten wurden sie von bedeutenden Orchestern unter Dirigenten wie Oswald Kabasta, Karl Böhm, Clemens Krauss, Karl Etti, Max Loy und Fritz Reiner unter anderem in Wien, Graz, Frankfurt am Main, Berlin und Cincinnati gespielt und stets mit Begeisterung aufgenommen.

In Klangfülle und Opulenz etwas zurückhaltender als die zuvor entstandene monumentale Herbstsymphonie, ist die Natur-Trilogie ein farbenreiches Opus voller romantisch-lyrischer Leidenschaft und zugleich ein tiefes Bekenntnis zum Impressionismus. Der thematische Aufbau zeugt von der spirituellen Naturverbundenheit des Komponisten, der die eindrücklichen Stimmungen im Herzen der unberührten Landschaften seiner Heimat herrlich umzusetzen wusste. Darin erkennen wir das Werk eines wahren Klangzauberers in Harmonie und Orchestrierung, faszinierend durch vollendete Polyphonie und modern-geschmeidigen Kontrapunkt. All diese Stärken verschmelzen bei Joseph Marx zu einem höchst individuellen, unverwechselbaren Stil und unterstreichen seinen verdienten Ruhm als "Meister des Wohlklangs".

In der Symphonischen Nachtmusik (1922), ursprünglich Mondnacht genannt, öffnet sich das Tor zu einem friedvollen Garten Eden. Wie ein Grillenzirpen erklingen die Vibrati der Streicher und es erhebt sich ein geschwungenes Thema im Tutti zu einer gemächlich daherfließenden, kantablen Melodie - der Mond bittet zur Audienz. Die Solovioline singt das Lied der Nachtigall, das sogleich vom Orchester aufgegriffen wird und sich zu sinnlichsten Dimensionen aufschwingt. Glückselige Liebende vereinen sich im Rondo des Mittelteils zu einem berauschenden Tanz. Der Bogen zum Beginn schließt sich und schimmerndes Mondlicht taucht die mediterrane Landschaft in eine surreale, beinahe mystische Stimmung.

Seine tief romantische Grundhaltung und Verehrung für Debussy bringt Marx in der Idylle (1925) formvollendet zum Ausdruck. Der in F-Dur stehende Mittelteil der Trilogie trägt den Untertitel Concertino über die pastorale Quart und wird von einer Solo-Klarinette umrahmt, die durch eine Adaption des berühmten Flötenthemas aus dem "Nachmittag eines Faun" prägend in das Stück hineinführt. Archaisierende Quarten zaubern eine mediäval anmutende Pastorale. Förmliche Instrumentierung in französischer Manier und eine geistreich schwebende, kunstvoll zurückhaltende Atmosphäre zeichnen hier das Gemälde eines nebligen, südeuropäischen Herbstwaldes zur Morgendämmerung. Zweifellos hat Marx mit der Idylle eine kongeniale Hommage an Debussys Prélude geschaffen, wenn nicht sogar ein eigenständiges Meisterwerk höchster Güte.

Die Frühlingsmusik (1925) führt aus der Kontemplation in ein Wiedererwachen der Natur: Auftauende Bäche, tanzende Waldgeister, Vogelgesänge, zartgrüne Knospen und himmlische Düfte scharen sich im Einklang zu einer urmusikalischen Hymne. Obgleich die Sätze der Trilogie eher charakteristisch als formal miteinander verwandt sind, werden durch einzelne Episoden mit schier unerschöpflichem Variationsgenie motivische Anklänge untereinander geschaffen. So tauchen zu Beginn der Frühlingsmusik Variationen des Hauptthemas der Symphonischen Nachtmusik auf, ihr Mittelteil hingegen zeigt sich in Form und Stimmung als Reminiszenz an die Idylle. Zum Ende des Werkes, wenn das zauberhafte Einleitungsthema der Trilogie ein letztes Mal erklungen ist, jubilieren alle Naturgesänge im Chor und sämtliche Motive gipfeln in einer geradezu metaphysischen Ekstase der Schöpfung.

© Berkant Haydin & Martin Rucker



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