Deutscher Booklet-Text (Beiheft) zur Marx-CD Volume 4 ("Die Klavierkonzerte"; ASV CD DCA ????)

Wenn ein 3-jähriger Junge unter dem Klavier liegt, während seine Mutter Konzertstücke übt, und wenn er sich gerne Notenblätter anschaut, obwohl er ihren Sinn nicht versteht, muß aus ihm nicht unbedingt ein hochangesehener Komponist, Musikpädagoge und -kritiker werden. Bei Joseph Marx (1882-1964) hat sich dies jedoch schon damals abgezeichnet. Seine Mutter erkannte früh die Begabung ihres Sohnes und schickte ihn zur Musikschule von Johann Buwa in Graz, wo Marx sich zu einem exzellenten Pianisten heranbildete, so daß Buwa einmal sogar sagte: "Das wird ein zweiter Rubinstein!" Auch wenn Buwas Prognose sich nie erfüllen sollte, gab es für Marx keine Alternative zur Musik. Denn Marx, der später aufgrund des vom Vater erteilten Klavierspielverbots heimlich weiterspielte und auch zu einem sehr guten Geiger und Cellisten wurde, fertigte bereits als Teenager Arrangements von Werken Haydns und Schuberts an und führte diese mit Freunden in Wirtshäusern auf. Schon damals zeigten sich bei ihm Einflüsse durch Debussy und Scriabin, deren Werke er studiert hatte. Doch er besaß auch umfassende Kenntnisse über viele andere Größen wie beispielsweise Max Reger (laut Marx der "Wiedererwecker des Bachschen Geistes"). Einmal war Reger über Marx, der jedes noch so unbekannte Werk von Reger kannte, derart überrascht, daß er ausrief: "Dieser Marx kennt das, der verfluchte Kerl!"

In den Folgejahren entwickelte Marx sich zunehmend zu einem "Klavierkomponisten" (ähnlich Rachmaninov) und schrieb zahlreiche bislang unveröffentlichte, jedoch fast ausnahmslos vortreffliche Klavier- und Orgelstücke. Darauf folgte eine Phase (ca. 1905-12), in der Marx Klavierlieder komponierte. Insgesamt entstanden rund 150 Lieder, die von berühmten Künstlern aufgeführt wurden und heute wieder häufiger zu hören sind. Erst im Alter von rund 30 Jahren - nachdem er zwei unvollendete Symphonien (1901 und 1906) sowie mehrere bislang unveröffentlichte Chorwerke geschrieben hatte - gab Marx im Alter von 29 Jahren erstmals Orchesterwerke zur Veröffentlichung frei. Es handelte sich hierbei um eindrucksvolle Chorwerke mit Orchesterbegleitung, darunter Herbstchor an Pan, Morgengesang, Abendweise, Berghymne und Ein Neujahrshymnus (die beiden letzteren wurden 2004 neu orchestriert). Nachdem er auch noch Kammermusik geschrieben hatte (die 1. Violinsonate, Werke für Cello & Klavier, ein Klaviertrio, drei Klavierquartette und weitere pianistische Kammerwerke), komponierte er 1916 eine Serie von Klavierstücken, die als Perlen der Klavierliteratur gelten (vergleichbar denen von York Bowen), jedoch unerklärlicherweise kaum gespielt werden.

Während seiner rund 40-jährigen Lehrtätigkeit als Professor für Musiktheorie und Komposition in Wien und Graz gehörte Marx zu den angesehensten und aktivsten Musikpädagogen innerhalb der internationalen Musikgemeinde, und es wird allzu oft vergessen, daß Marx in dieser langen Ära seines Schaffens nicht weniger berühmt war als seine französische Kollegin Nadja Boulanger, die ebenfalls viele große Musiker und Komponisten des 20. Jahrhunderts ausgebildet hat. Marx, der seine Lieder bis kurz vor seinem Tode oft am Klavier begleitete, war außerdem nachweislich ein exzellenter Pianist. Seine noch lebenden Schüler berichten, daß er selbst die schwierigsten Klavierstücke jederzeit auswendig und fehlerfrei vorspielte. Mit entsprechendem Training hätte aus ihm vielleicht ein Konzertpianist werden können, doch wie man weiß, legte Marx den Schwerpunkt seiner Arbeit von Anfang an auf das Kompositorische und Pädagogische. Insbesondere der enorm anspruchsvolle Klavierpart des Romantischen Klavierkonzerts und die pianistischen Raffinessen im zweiten Klavierkonzert Castelli Romani weisen ihn als Klaviervirtuosen aus. Die ersten Skizzen des unmittelbar vor der monumentalen Herbstsymphonie (1921) entstandenen Romantischen Klavierkonzertes stammen von 1916, doch Marx stellte die Arbeit an der Partitur bis 1919 zurück. Zu dem Zeitpunkt war seine Entwicklung zum Orchestermusikkomponisten bereits abgeschlossen. Als Symphoniker, der häufig auch eigene Werke dirigierte, befaßte Marx sich mit Orchestermusik hauptsächlich bis Anfang der Dreißiger Jahre und schrieb neben der Herbstsymphonie weitere groß besetzte, meisterhafte Orchesterwerke wie die Nordland-Rhapsodie und die Natur-Trilogie.

Marx und sein "Hauspianist", der Triester Angelo Kessissoglu, spielten das Romantische Klavierkonzert im Sommer 1919 erstmalig in der Fassung für zwei Klaviere. Nachdem Marx es orchestriert hatte, fand die Uraufführung der Orchesterfassung am 19. Januar 1921 mit Angelo Kessissoglu und den Wiener Symphonikern unter Ferdinand Löwe statt, dessen Nachfolge als Direktor der Wiener Musikakademie Joseph Marx im Jahre 1922 übernahm. Beim Romantischen Klavierkonzert fällt auf, daß die Orchestrierung noch nicht den für Marx typischen, farbenreich-hedonistischen Stil seiner darauffolgenden Werke aufweist, sondern dem Geist des 19. Jahrhunderts treu bleibt. Auch durch die Wahl des Titels ("Romantisches ...") wollte Marx sich vom aufblühenden Modernismus der Zweiten Wiener Schule klar distanzieren. Hingegen ist der energische Klavierpart, der dem Solisten ein hohes Maß an Virtuosität und Ausdauer abverlangt, im Gesamtklangbild eher modern und dem 20. Jahrhundert zuzuordnen.

Stilistisch steht das Romantische Klavierkonzert (1919-20) skandinavischen Klavierkonzerten wie denen von Palmgren und Hannikainen sowie britischen Klavierkonzerten (z.B. Harty und Delius) nahe. Zudem lassen die mannigfaltigen Harmonien desöfteren Anklänge an Scriabin und Debussy durchschimmern und erinnern an die kompositorischen Mittel von Pancho Vladigerov, dem bulgarischen Pendant und Freund von Joseph Marx. Das Werk läßt sich als "symphonisches Duett" zwischen Klavier und Orchester bezeichnen. Das Klavier wird nur selten als gesonderter Klangkörper eingesetzt, sondern ist in die symphonische Gestaltung eingeflochten und wird oft entsprechend seinen farbigen Wirkungen verwendet. Doch dies muß den meisten Pianisten als undankbare Aufgabe erscheinen, denn nur dem geübten Hörer fällt auf, welch enormen Kraftakt der Solist vollbringen muß. Dies dürfte einer der Gründe dafür sein, daß sich anscheinend kaum jemand an dieses herrlich ungestüme, wild-romantische Virtuosenstück heranwagt.

Der erste Satz (Lebhaft - Allegro moderato) benutzt die Sonatenhauptsatzform. Er beginnt mit einem bedächtigen Paukenwirbel und stellt das leidenschaftliche Anfangsthema vor. Es folgt ein von den Holzbläsern gespieltes, gesangliches Thema, das einige sich steigernde Episoden durchläuft. Die Durchführung im 6/8-Takt ist eine Reminiszenz an das Hauptthema, diesmal jedoch überwiegend orchestral. In der Reprise muß der Pianist schließlich alles geben. Hier erklingt nochmals das Gesangsthema der Exposition in größerer Besetzung, bis der Satz mit einer feierlichen Coda endet.

Der zweite Satz (Nicht zu langsam - Andante affetuoso) ist formal dreigliedrig und steht in Fis-Moll. Hier werden Bachsche Polyphonie und die Romantik des 19. Jahrhunderts zelebriert. Eine elegische Pastorale führt in das Geschehen ein. Das Klavier greift die Motive der Pastorale improvisierend auf. Nach einem fulminanten Höhepunkt folgt eine Klavierepisode, woraufhin der Mittelsatz nach einer Reprise des 1. Teils zu einem kontemplativen Ende kommt.

Der dritte Satz (Sehr lebhaft - Allegro molto) läßt anfangs Parallelen zum ersten Satz erkennen. Es folgt das Hauptthema mit erregten Steigerungen. Eine lyrische Klavierpassage führt in ein überraschendes "Karawanenmotiv" der Holzbläser, das vom Orchester aufgegriffen wird. In einer Reprise wird das Hauptthema variiert und führt in eine weitläufige Kadenz. Mehrmals nimmt Marx Motive aus der späteren Herbstsymphonie vorweg. Zum Ende hin muß der Solist nochmals unwahrscheinliches Können beweisen, bis das Werk in der Haupttonart E-Dur temperamentvoll ausklingt.

Bei einer seiner Autoreisen in den Süden besuchte Marx, dessen Mutter Halb-Italienerin war, die "Castelli Romani", die Felsenstädte und Ruinen auf den bewaldeten Hügeln bei Rom. Mit seinem hiernach benannten zweiten Klavierkonzert Castelli Romani - Drei Stücke für Klavier und Orchester (1929-30) setzte Marx diesem kunsthistorisch bedeutsamen Ort ein bemerkenswertes Denkmal, wie er es kurz darauf noch ein weiteres Mal mit Auf der Campagna tun sollte (dem fünften Teil von Verklärtes Jahr, 1930-32).

Die Uraufführung fand am 5. Februar 1931 in Darmstadt unter Karl Böhm statt. Der Solist Walter Gieseking brachte in Briefen an Joseph Marx immer wieder seine große Verehrung für dieses sehr virtuos angelegte Werk und seine Dankbarkeit, es spielen zu dürfen, zum Ausdruck. Castelli Romani in Es-Dur ist ein magisches Feuerwerk mediterraner Gefühle und meisterlich instrumentierter Stimmungsbilder. Marx versinnbildlicht hier das Geistesleben der klassischen Kultur der Griechen und Römer sowie der italienischen Renaissance. Seine mit folkloristischen Elementen angereicherten Impressionismen erinnern an Ravel, aber auch an das leidenschaftliche Pagan Poem von Charles Martin Loeffler, während besonders der dritte Satz von Castelli Romani der berühmten Römischen Trilogie von Ottorino Respighi huldigt, mit dem Marx - was kaum mehr überrascht - ebenfalls befreundet war.

Bereits der erste Satz, Villa Hadriana - Allegro (ma non tanto), kennzeichnet das Werk als eine Art "musikalisches Bilderbuch". Auf seinem von Seen und Gartenanlagen durchzogenen Anwesen lagerte der Kaiser Hadrian Schätze aus aller Welt. Wenn Marx mit Pentatonik und offenen Quinten und Quarten den efeuumsponnenen Palästen des Kaisers neues Leben einhaucht, scheint sich jedes Gefühl für Raum und Zeit aufzulösen.

Der geheimnisvolle Zauber des zweiten, rondoartigen Satzes (Andante) führt uns nach Tusculum, einer von Pinien umgebenen idyllischen Gartenstadt des alten Rom. Eine antike griechische Weise des Pindar schwebt leise und wehmutsvoll in die pastorale Grundstimmung dieses Satzes hinein, der nach einem kraftvoll-majestätischen Mittelteil in einem Pianissimo der Holzbläser ausklingt.

Der dritte Satz Frascati (Presto), der den Namen eines berühmten Weines trägt, ist ein Symbol für die südliche Lebensfreude. Wir befinden uns in der von Marx geliebten Campagna, wo Menschen zu flotten Rhythmen und zu einem Mandolinensolo tanzen. Ganz in der Ferne läßt Marx Forum Romanum und Petersdom erglänzen. Das gregorianische Hauptthema des ersten Satzes wird wiederaufgenommen, und das Werk endet mit einem jubilierenden Glockengeläut.

Die Klavierkonzerte von Joseph Marx wurden bis Anfang der Achtziger Jahre in vielen Teilen der Welt (z.B. in New York, London, Rom, Budapest, Linz, Prag, Zagreb sowie in vielen Städten Österreichs und Deutschlands) aufgeführt und stets mit Begeisterung aufgenommen. Sie wurden von Solisten wie Jorge Bolet (der das "Romantische" in den Siebzigern entdeckt und es als sein "Lieblingskonzert" bezeichnet hat) sowie Walter Gieseking, Patrick Piggott, Frieda Valenzi, Alexander Jenner, Hans Petermandl, Julius Bassler, Edith Farnadi und Angelo Kessissoglu gespielt, jeweils unter Dirigenten wie Ferdinand Löwe, Felix Weingartner, Karl Etti, Karl Böhm, Clemens Krauss und Oswald Kabasta, sowie in der jüngeren Vergangenheit unter Lior Shambadal, Ali Rahbari, Marek Janowski und Zubin Mehta (der im Jahre 1976 die unvergeßliche US-Premiere des Romantischen Klavierkonzerts in New York dirigierte).

Bereits an dieser Aufzählung von Namen erkennt man, welchen Wert bedeutende Künstler Joseph Marx beigemessen haben. Marx, der als Komponist keinerlei Bezug zur Filmmusik hatte, hinterließ eine Vielzahl berauschender Melodien, die selbst die wildesten Träume Hollywoods in den Schatten stellen. Seine Werke sind eine Bereicherung für das gesamte Genre des spätromantischen Klavierkonzertes und werden hoffentlich wieder häufiger in den Konzertsälen zu hören sein und dank dieser Einspielung als Schätze der Musikgeschichte in den Herzen der Zuhörer weiterleben.

© Berkant Haydin & Martin Rucker, 2005



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