*
                Zurück zur Biographie

Zurück zum Werkverzeichnis
               

*



"Musik ist klingendes Leben."

   (Joseph Marx)


In dem folgenden Bericht, den Joseph Marx zur Zeit seiner Funktion als Berater der Atatürk-Regierung beim Aufbau des türkischen Musiklebens in den Jahren 1932 und 1933 schrieb, erfahren wir nicht nur einiges über seine Arbeit als offizieller Gutachter, der die Möglichkeiten einer Neuorganisierung des türkischen Musiklebens nach europäischem Vorbild auszuarbeiten hatte, sondern lernen nebenbei auch Marx, den hochgebildeten und vielfältig interessierten Kosmopoliten, kennen.

Hier wird außerdem ganz besonders deutlich, welch begnadeter Sprachkünstler er war. Marx, produktiver Autor zahlreicher Aufsätze und musikwissenschaftlicher Texte und über lange Zeit der führende Musikkritiker Wiens, wurde für seinen Scharfsinn und sein beachtliches Wissen in verschiedensten Gebieten der Kunst, der Literatur sowie der Geistes- und Naturwissenschaften ebenso bewundert wie für seine oft humoristisch angehauchte Rhetorik und seinen beeindruckenden Phantasiereichtum, den er spielerisch - und nicht selten auch poetisch - in Worte zu kleiden wußte.

In seiner für ihn typischen Art, die ihn als feinsinnigen Menschen mit enormer Beobachtungsgabe auszeichnet, beschreibt er bildhaft seine Erlebnisse und Eindrücke in einem sich modernisierenden, geteilten Istanbul und zeigt sich überrascht von der offenkundigen Musikalität der Türken und den Besonderheiten der türkischen Kunst- und Volksmusik, die er als willkommene Bereicherung für die europäische Musiktradition betrachtet.

So war Marx letzten Endes nicht nur ein Berater, der die Grundlagen für seine spätere Nachfolge durch Paul Hindemith schuf, sondern trug auch entscheidend zur Völkerverständigung bei und schlug Brücken zwischen Kulturen, die sich zuvor völlig fremd gewesen waren.



Einen interessanten (deutschsprachigen) Text über die Modernisierung der traditionellen türkischen Musik im Zwanzigsten Jahrhundert findet man hier



Meine Berufung nach Stambul

Früher stellte man sich den Türken etwas märchenhaft vor: mit gekreuzten Beinen auf einem türkisblauen Polster sitzend, die kilometerlange Wasserpfeife im Munde, während eine kaffeebraune Zaire oder Sobeide mit schmalen Hüften und leisen Katzenschritten tanzt; die Silbersichel des Mondes am schwarzen Firmament glitzert auf den Diamanten des Turbans. Man hatte schon als Kind "Tausend und eine Nacht" gelesen; später in der Schule gelernt, daß der geruhsame Orientale auch furchtbar wild werden könne, wenn er seinen krummen Säbel schwingt, Ungarn erobert und Wien bedroht. Trotzdem hielt man ihn bis zum Weltkrieg für einen Dekadenten, den der allzu reichliche Gebrauch seines Harems um die Nerven gebracht hat. Die Erfahrungen der Schlacht haben dieser Meinung nicht recht gegeben: Der Türke war, wie der Franzose, trotz einer gewissen raffinierten Überfeinerung ein tapferer, widerstandsfähiger Soldat. Als der Krieg trotz der vielen gewonnenen Schlachten endgültig verloren war, rechnete man in Europa mit einer völligen Auflösung dieses Staatswesens. Das Volk in tiefem Aberglauben, keinerlei moderne Einrichtungen im Lande, dazu die Niederlage... Ein rasches Gesunden schien ausgeschlossen. Es kam anders. Im völligen Durcheinander organisierte man sogar militärischen Widerstand. Ein genialer Staatsmann ergriff beherzt das Steuer des schwer havarierten Schiffes und setzte sich gegen eine Welt von Feinden durch. Das Land erholte sich über Nacht und heute bereits ist die Türkei ein relativ gesunder Staat mit geordneten kulturellen und wirtschaftlichen Verhältnissen.

Kindheitsvorurteile halten lange an. Ich war doch etwas überrascht, als eines Tages zwei türkische Musikstudenten in Großformat, wahre Enaksöhne, bei mir erschienen, um Musiktheorie zu lernen. Der Ältere, Seyfettin Asaf - er ist jetzt Konzertdirigent in Stambul und hatte kürzlich mit einer selbstkomponierten Orchesterfantasie über türkische Themen großen Erfolg -, blond, blauäugig (man hätte ihn beinahe für einen Germanen halten können) und sein Bruder Sezai Asaf, mit einem unglaublich kühnen Abenteurerfilmprofil und dunkel drohenden Augen, ein Jungmädchentraum nach aufregender Lektüre. Beide studierten mit Eifer und kehrten nach Absolvierung des mehrjährigen Kurses in ihre Heimat zurück. Dann erfuhr ich aus einem Briefe, daß sie einige Zeit bei Kemal Pascha in Ankara zu Gast waren und nun in seinem Auftrag asiatische Volkslieder sammelten. Einige Jahre später suchte mich ein junger türkischer Kapellmeister namens Ferit Hasan auf: Er hatte in Berlin die Grammophonaufnahmen orientalischer Volksmusik für das sogenannte Völkerarchiv geleitet und wollte sich in Musiktheorie weiterbilden. Während seiner Studien an der Wiener Meisterschule schrieb er einen nationalen Tonfilm, der in Paris fertiggestellt wurde, und komponierte das erste türkische Singspiel mit nationalen orientalischen Volkstypen, das in Stambul unter seiner Leitung mit größtem Erfolg aufgeführt und über fünfundzwanzigmal wiederholt wurde, was für Stambul, wo es derlei Kunst noch nicht gab, viel bedeutet. Kemal Pascha war bei der Premiere zugegen und äußerte sich: "Wir Türken sind doch ein sehr begabtes Volk, wenn einer von uns ohne jede Tradition ein solches Werk zustande bringt und selbst dirigiert." Ferit hat die Meisterschule mit ausgezeichnetem Erfolg absolviert. Jetzt ist er bereits Kompositionslehrer am Konservatorium in Stambul. Sein jüngerer Freund Kazim Necil studiert noch; auch er zeigt eine ganz eigenartige Begabung. Einige seiner Klavierstücke sind in der Universal-Edition erschienen.

Zwei Tatsachen sind daran erfreulich: Daß sich eine neue und, wie es scheint, wertvolle nationale Kunst entwickelt, und daß Wien darauf einen bestimmten Einfluß nehmen konnte. Die orientalische Volksmusik ist erstaunlich reich an höchst originellen Rhythmen und Motivbildungen. In der russischen Tonkunst finden wir begreiflicherweise frühzeitig deren Einflüsse. Eines der interessantesten Klavierstücke der Weltliteratur, "Islamey" von Balakirew, profitiert von den orgiastisch pochenden Rhythmen des Orients ebenso wie der sarmatische Strawinsky. Rimsky-Korssakow liebt in seinen leider viel zu wenig bekannten Opern asiatische Einflüsse, selbst der klassizistische Glasunow entzieht sich diesem exotischen Zauber nicht ganz, wie es keinen russischen Komponisten gibt, der nicht einmal ein "Orientale" oder eine "Serenade am Bosporus" geschrieben hat. Und der müde Zauber eines "Danse languide" von Skrjabin hat etwas vom erotischen Dämmer des Harems. Aber auch die südspanische Musik zeigt starke Nachwirkungen maurischer Eroberer, ähnlich wie die Architektur. Überhaupt finden sich beinahe in der gesamten neueren Musik motivische Einflüsse des Orients als pikantes Gewürz; Debussys "Abend in Granada'' ebenso wie Ravels "Bolero" oder "Orientale" von Cyril Scott. Die Geschichte dieser exotischen Wirkungen ist ein interessantes Kapitel der modernen Musikgeschichte.

Es ist begreiflich, daß sich die kleine türkische Komponistenschule an der Wiener Musikakademie besonders in die Werke dieser Impressionisten einlebte. Ihre andere schwierige Aufgabe fand sie in der harmonischen Ausdeutung türkischer Volksmusik. Bekanntlich kennen die Orientalen keine Harmonie; dafür ist ihre Fähigkeit, einstimmige Melodien vielfältigst zu entwickeln und durchführungsartig zu erweitern, besonders ausgebildet. Die Grundlage dafür bilden komplizierte Skalen, die sich auch in den höheren und tieferen Oktaven ändern, also verschiedene "chromatische Haltung" zeigen und Vierteltöne enthalten, zu deren Hervorbringung auf der türkischen Laute verschiedene "Stimmungshebel" vorhanden sind. Es galt nun, diese Skalen einigermaßen stilgetreu in unser temperiertes System zu übertragen und auch eine Harmonik anzubahnen, die Musik dieser Gattung stilgemäß zu begleiten. Die jungen Leute haben bereits Sonaten, symphonische Dichtungen in diesem neutürkischen Stil komponiert; es hört sich ganz ungewohnt, seltsam, harmonisch fremdartig an, doch merkt man trotz der vielfach linearen Bildungen bei sonst kühnster Harmonik eine strenge innere Logik und viel Talent heraus.

Nun wollte die türkische Regierung auch ihre Musik auf eine zeitgemäße Basis stellen und fördern. Junge Talente, die etwas können, hatte sie, es fehlte noch eine direkte Verbindung mit Europa in der Person eines europäischen Künstlers. Man verhandelte in verschiedenen Ländern, auch in Wien mit Bittner, Klenau und anderen. Schließlich blieben in letzter Wahl der bedeutende französische Komponist und Musiktheoretiker Vincent d'Indy, der bekannte Geiger Henry Marteau und der Verfasser dieses Artikels übrig. Vermutlich hat man die Angelegenheit schließlich mir übertragen, weil man bei mir im Hinblick auf meine türkischen Schüler und deren Arbeiten eine gewisse Vertrautheit und Interesse für das künstlerische Gedeihen der türkischen Tonkunst mit Recht voraussetzte.

Meine Aufgabe besteht nun in erster Linie in der Behandlung gewisser Organisationsfragen und umfaßt das bereits bestehende Konservatorium, Orchester, Bibliothek, Oper, mit einem Wort alles, was mit Musik zusammenhängt. Ich bin also weder Konservatoriumsdirektor noch Generalinspektor, sondern gewissermaßen künstlerischer Beirat der Regierung in allen Fragen der Ausgestaltung von Kunstinstituten und Stellenbesetzung. Zu diesem Zwecke werde ich mich voraussichtlich zweimal im Jahre auf ein paar Wochen nach Stambul begeben. Die musikalischen Verhältnisse sind dort bereits soweit gediehen, daß die geschulten jungen Leute auch ohne besondere Aufsicht gut türkisch in europäischem Sinne Musik treiben werden. Da man sie hierin von Seiten der Regierung in jeder Weise unterstützt und alle Entscheidungen streng sachlich, ohne persönliche oder Parteiprotektion ausschließlich nach Können und Leistung erfolgen, kann man der Entwicklung der Dinge ruhig zusehen. Und Wien hat wieder eine neue musikalische Interessensphäre, was dazu beitragen möge, sein Ansehen in der Welt zu heben.

Wie ich an der türkischen kulturellen Revolution mitwirkte

Im Auftrag der türkischen Regierung reiste ich nach Konstantinopel, um das Musikleben zu studieren und nützliche Vorschläge zu machen. Konservatorium, Orchester, Theater, Volksmusiken sollten mehr Zusammenhang erhalten, um eine zeitgemäße nationale Kunst vorzubereiten. Ein neues Konservatoriumsgebäude wird gebaut; das Statut der Anstalt berücksichtigt europäische Verhältnisse ebenso wie den Zauberklang anatolischer Heimat. Eine fesselnde Aufgabe, bei dieser Neugründung mitschaffen zu können. Regierung, Künstler, Intelligenz des Landes erwarten mit Ungeduld die Entwicklung der Dinge. Der Gazi - so nennt man Kemal Pascha in der Türkei - sagte kürzlich wörtlich: "Solange unsere Künste nicht auch eine aussichtsreiche Wiedergeburt erleben, ist die kulturelle Revolution nicht beendet." - "Und Gazi irrt niemals", fügte der Generalgouverneur von Istanbul bei, der mir diesen Ausspruch mitteilte.

Wer heute eine Reise tut, der kann was erzählen - von der mangelnden Einsicht der Länder und der Kurzsichtigkeit der leitenden Stellen nämlich. Man fragt sich jedesmal: Wie lange wird der Devisenunfug noch dauern? Gibt es tatsächlich kein anderes Mittel gegen Schiebereien, als daß man gleich das Kind mit dem Bade ausschüttet, das kranke Hühnerauge durch Amputation des Fußes ein für allemal radikal heilt und jede notwendige Handelsbeziehung zwischen den Staaten einfach unmöglich macht? Wie soll Europa gesunden, wenn sich die Staaten ostentativ den Rücken kehren und von einander nichts wissen wollen? So sieht es nämlich in der Tat aus, trotz der fortgesetzten Freundschaftsbeteuerungen und Friedensfaseleien.

Die Sache beginnt damit, daß man für einen Millionär gehalten (was ja an sich höchst schmeichelhaft), aber ein klein wenig wie ein Lump behandelt wird. Nicht etwa, daß man unhöflich angepackt würde - Gott bewahre! Die Beamten sind höflich, geradezu rücksichtsvoll. Aber es wirkt auf die Dauer ermüdend, bei jeder Grenze Vermögensbekenntnisse abzulegen, die paar Valuten nachzuzählen, die einem noch vom letzten Speisewagenbesuch geblieben sind. Bekennt einer mehr, wird er gleich der Valutenschieberei verdächtig; bekennt er wenig, liest man die unausgesprochene Frage im Gesicht des Zollorgans: "Was wollen Sie mit acht englischen Pfunden in Stambul anfangen? Vielleicht ist noch was im Koffer, was Sie in der Eile anzugeben vergaßen?"

Für alles entschädigt ein Blick aus dem Waggonfenster. Budapest erscheint (man winkt zum herrlichen Parlament am Donaustrand hinüber) strahlend in der Sonne Glanz, die Berge seiner prächtigen Umgebung verebben, Ebene, Pußta mit Pferden und Ziehbrunnen, einsame Gehöfte. Gegen Abend Belgrad in tausend Lichtern, unheimlich breite Flüsse - als Begleitmotiv all der Herrlichkeiten Zollbeamte, die kommen, gehen und wiederkommen. Nur die Uniform hat sich geändert. Nebstbei holt man etwas Geographie nach. "Balkan", "Halbinsel", der Zipfel von Europa, rechts unten, erinnert man sich dunkel. Und wundert sich einigermaßen, wenn die Fahrt von Belgrad nach Sofia ebenso lange dauert wie die von Wien nach Belgrad durch ganz Ungarn. Bulgariens dunkle Schluchten und Berge imponieren; das ist wirklich "Einsamkeit". Dann wieder Ebene, wilde Hirten in Lammfellen. Am Horizont erscheint eine große Stadt mit feiner, östlicher Silhouette: Sofia. Am Bahnhofplatz führt ein Bärentreiber den Meister Petz spazieren. In Wien würde das ungeheures Aufsehen machen und vermutlich ein erhöhtes Wacheaufgebot erfordern.

Nach Istanbul sind es noch immer beinahe geschlagene vierundzwanzig Stunden. Berge, Ebene, unbekannte Stationen, deren Namen man wegen der zyrillischen Schrift nur schwer entziffert, dann wieder flaches Gebirge, mit niederem Strauchwerk bewachsen. Strategisch wichtiges Gebiet, sonst ist wohl nicht viel damit anzufangen. Der Zug fährt weiter; wir nähern uns Istanbul. Ein paar kleine Haltestellen, eine beinahe noch kleinere Stadt. Einsame Häuser, Lehmhütten, Strandterrain ähnlich dem vor Venedig. Die Bahnlinie steigt und fällt dann langsam gegen das Meer zu ab. Man erblickt die erste Bucht. Entzücken des Mitteleuropäers, diesen Anblick zu genießen. Man atmet Seeluft, das Klima wird von Kilometer zu Kilometer milder. Beglückt und etwas müde lehnt man am Fenster. Zierliche Holzhäuser, enge Gassen, verfallene Bauten, enge und stellenweise schlechte Straßen, in die man bei rascher Fahrt hineinblickt, byzantinische Baudenkmäler, und dann der erste Blick auf die Stadt am Meer, in unvergleichlicher Lage, vielleicht der schönsten, die sich Menschen je eroberten. Nach wenigen Minuten fährt man im Bahnhof ein.

Am Perron erwarten mich sympathische Menschen: Ekrem Bei, der erste Sekretär des Gouverneurs, der mir seinen Willkommgruß übermittelt, der Direktor des Konservatoriums mit seinem Sekretär, dann drei türkische Schüler und auch ein junger Österreicher, der nach der Diplomprüfung an unserer Akademie eine Klavierklasse an der staatlichen Musikanstalt in Stambul erhielt. Ein junger türkischer Komponist - auch er wurde nach den erfolgreich abgelegten Prüfungen an unserer Akademie Professor am Stambuler Konservatorium und obendrein glücklicher Autobesitzer - fährt mit mir durch die alte Stadt in den neuen Teil Pera, wo das Hotel liegt. Man bekommt einen Vorgeschmack davon, was diese Stadt eigentlich ist: eine phantastisch verwirrende, unerhört fesselnde Kombination verschiedener Stile und Völker, künstlerisch das Anregendste, was sich denken läßt. Wundervolle Moscheen, römische Denkmäler. Gärten. Paläste, dazwischen ein moslemischer Friedhof mit windschiefen Säulen, alte Holzhäuser von einer unvorstellbaren Vielfältigkeit der Form, türkische Portale mit goldenen Inschriften und dazwischen Durchblicke aufs Meer, die alles übertreffen, was man bisher gesehen hat. Venedigs geheimnisvolle Gäßchen, Roms romantische Trümmerhaufen, Palermos byzantinische Exotik - alles ist hier und noch mehr! Der moderne Stadtteil auf der anderen Seite - man fährt auf einer breiten, modernsten Brücke über den Meeresarm - ist ganz europäisch; man könnte meinen, den Corso Umberto in Rom oder sonst eine bunt belebte Straße des Südens zu passieren, wie auch das wogende Durcheinander südlich gebräunter Menschen an Italien erinnert. Bei genauerem Zusehen kommt einem allerdings die Fremdartigkeit des Milieus stärker zum Bewußtsein. Man genießt den Einfluß des Orients wie den schwülen Duft einer exotischen Blume und berauscht sich an den völlig ungewohnten Formen und Farben, kann nicht genug bekommen von all dem Neuen, das da auf Schritt und Tritt immer wieder anregt und bezaubert.

Auch ein abendlicher Bummel durch die Hauptstraßen von Istanbul ist eigenartig fesselnd. Tausende aufgeregter südlicher Menschen wogen durcheinander, lange Autokolonnen hindern den Verkehr, überall buntes Leben und Frohsinn. Biegt man in eine der zahllosen, gewöhnlich schmalen Nebengassen ab, umfängt einen gleich der Zauber einer geheimnisvollen Stadt. Aus einer Spelunke hört man fremde Lieder der Orientalen, rätselhafte Gestalten huschen vorbei, es wird unheimlich und seltsam. Ich kehre in die hellerleuchtete Hauptstraße zurück und kaufe mir bei einer der vielen Zeitungsverkaufsstellen ein "Neues Wiener Journal", blättere auf und lese: "Otto König gestorben". In großen schwarzen Lettern steht es da. Ich versuche - wie immer, wenn Schreckliches geschieht - an meinem Wachsein zu zweifeln, mache mich mit einer Art Traumlogik von der Erscheinungswelt unabhängig und beginne angestrengt nachzudenken, ob das wirklich der O. K. vom "Neuen Wiener Journal" sein kann oder irgendein anderer König, Namensgleichheit, Irrtum, Zufall... Allerhand schießt einem in zwei Stunden durch den Kopf, bis man sich entschließt, weiterzulesen und unwiderlegbar erfährt: Dieser stille, feine, vornehme Mensch, mit soviel versteckter Güte im Herzen und dem verstehenden Lächeln eines vielgeprüften Menschen im Gesicht, ist nicht mehr. "Trösten Sie sich, Marx", sagte er kürzlich nachdenklich zu mir, als ich nach dem Tode meines Freundes Wildgans mit ihm über die Unbegreiflichkeiten des Schicksals sprach, "es ist nun einmal so: Die Unrichtigen sterben und die leicht entbehrlichen Lumpen bleiben uns erhalten." Ein schlechter Trost fürwahr; denn nur jenes Leben erscheint wertvoll, das sich ausfüllt mit wertvollen Beziehungen. Sollen diese schließlich nur mehr ins transzendentale Reich verstorbener Geisteshelden und nicht auch zum Herzen eines lieben Menschen fuhren, der noch unter den Lebenden weilt? Die Situation wird für den alternden Menschen mit der Zeit fatal.

Das neue Konservatorium wird erst gebaut, das alte ist ein größeres türkisches Holzhaus, zu klein für die paar hundert Schüler und vor allem zu akustisch. Türken, Armenier, Griechen, Anatolier, Bulgaren, aber auch Westeuropäer lernen hier ihren Beethoven; er ist immer etwas verschieden, je nach Nation und Talent, und bleibt doch dasselbe große Erlebnis, an dem alle irgendwie teilhaben wollen. Die Türken sind musikalisch ausgesprochen begabt, enorm geduldig beim Üben und zeigen besondere rhythmische Anlagen. Eben ist Pause; ich blicke zum Fenster hinaus auf eine prachtvolle Moschee in nächster Nähe, mit fremdartigen Türmen und Zierwerk. Gleich dabei ein türkischer Friedhof, die Grabstätte für Bevorzugte aus der Umgebung des Sultans; nur solche durften neben der Moschee bestattet werden. Unten im Schulzimmer versucht jemand die erste Fuge des "Wohltemperierten Klaviers". Merkwürdig, wie sich manchmal die Kulturen berühren. Was würde wohl der Erbauer jenes herrlichen Bauwerks zu Bach sagen und die Märchenphantasie jener verstorbenen Großwesire und Lieblingsfrauen zu einer Fuge? ... Die ewige Kunst! Sie ist gar nicht so verschieden wie man meint; abgesehen davon versteht man sich nach Jahrhunderten bedeutend besser. Und sie will eigentlich auch immer dasselbe: den Menschen zu den edelsten Begeisterungen seiner Vollendung führen.

Wenn man Stambul zum ersten Male sieht, wird man ganz verwirrt; das passiert einem auch wo anders, aber nicht in solchem Grad. Das nahe Asien ist bereits in allen Gassen, wundervolle Moscheen, graziöse Minarets mit spitzen Hüten (wie sie die Zauberer und Hexen tragen), unheimliches Winkelwerk in fünf Stilen zugleich, Gärten mit exotischen Pflanzen, der große Basar, einst Elefantenstall des alten Byzanz, ein riesiges Labyrinth halbdunkler Gänge, wo man alles, tatsächlich alles zu kaufen bekommt, bis auf braune Tscherkessenmädchen, die nicht mehr in den Handel kommen dürfen; Teppiche, Süßigkeiten, alte Waffen, Gemüse, Klaviere, Werkzeuge, Edelsteine, saure Milch und Radioapparate - dazu eine bunt wogende Menge, orientalische Musik und die seltsamsten Menschentypen; benommen eilt man ins Freie und steht schon wieder in einem Hof mit wunderbarsten byzantinischen Überresten. Erst nach Tagen gewöhnt man sich einigermaßen an die verwirrende Vielfältigkeit der Eindrücke; anfangs war man unfähig, den unerhörten Reichtum der Formen ordnend zu erfassen.

Der Türke ist Mohammedaner und zugleich ein moderner Mensch; damit ist eine ausreichende Charakteristik gegeben. Er weiß sich zu beherrschen - ich habe nie zwei aufgeregte Gemüter laut streiten gehört, eher schlagen sie gleich zu, wenn die innere Spannung zu sehr wächst. Diese Zurückhaltung bis zum äußersten macht ihn dem Fremden gleich sympathisch. Man hat den Eindruck, es kümmert sich niemand um einen. Ich ging am Feiertag durch das einsame Hafenviertel und landete schließlich in einer Schenke mit türkischem Puppentheater; setzte mich unter höchst abenteuerlichen Gestalten und trank meinen Kaffee, der mir in Ermangelung eines Tisches auf einem nebenstehenden Sessel serviert wurde, ohne daß man die geringste Notiz von mir nahm oder mich gar anstänkerte. Bei uns in Mitteleuropa wäre ein solcher Besuch einigermaßen riskant. Der gebildete Türke ist jetzt ein ganz modern geschulter und auch fühlender Mensch, der die kompliziertesten Stimmungen mitzuerleben vermag und unserer Dichtung viel Geschmack abgewinnt, trotzdem sein eigenes Volk eine wertvolle Literatur hat. Die äußere Ruhe verbirgt gewöhnlich ein leidenschaftliches Gemüt. Er ist begeisterter Nationalist, zeigt es aber nur in seltenen Fällen, ganz im Gegensatz zu den Italienern, die ohne nationale Abzeichen nicht auf die Straße gehen. Der Türke hält es auch nicht für notwendig, an Feiertagen große Versammlungen abzuhalten und dabei viel Krawall zu machen, um sein politisches Verständnis zu beweisen, was in Mitteleuropa viel Geld kostet. Er ist ruhig, fleißig und genügsam; der brave Lastträger aus dem orientalischen Märchen, dem irgendwo an einer Ecke unerwartetes Glück begegnet, geht noch immer vollbepackt durch die Gassen.

Der Wali Muhettin Bei ist der mächtigste Mann von Stambul; Oberbürgermeister der Stadt, Gouverneur der umliegenden Provinz, residiert im Gebäude der "Hohen Pforte", dem Regierungsgebäude des ehemaligen Sultans. Im Wartesaal ein buntes Durcheinander interessantester Typen; wieder muß ich an die Märchen aus "Tausendundeiner Nacht", an Pierre Loti und sogar ein wenig an Karl May denken. Da öffnet der Kawaß die Tür und schon stehe ich vor dem Gouverneur; er lädt mich zum Sitzen ein, ein Diener bringt Kaffee und Zigaretten. Gleich beginnt er nach einigen liebenswürdigen Worten von seinen Projekten zu sprechen, sachlich, ausführlich, mit größtem Verständnis und einer Wärme, die die innere Anteilnahme am künstlerischen Gedeihen der anvertrauten Stadt zeigt. Ich finde Gelegenheit, ihn auch persönlich genauer zu studieren: eine elegante Erscheinung von jener angeborenen vornehmen Haltung, die anderswo manchmal durch eine besondere Patzigkeit des Auftretens wohl erstrebt, aber nicht erreicht wird. Ein energisches Gesicht mit feinen, beinahe nervös beweglichen Zügen und einem menschlich reizenden Ausdruck im Blick. Wir verstehen uns bald gut. So nebenher kommen wir auch auf Wien zu sprechen, das er kennt und liebt; er hat natürlich alle Großstädte bereist und sich juristisch weitergebildet. Wir sprechen dann wieder über das Konservatorium und ich habe das Gefühl, daß dieser geistig hochstehende Mensch wirklich berufen ist, seinem Volk neue Entwicklungsmöglichkeiten zu eröffnen.

In Stambul gibt es leider schon zu viele Kinos, aber kein einziges Theater. Ein geräumiges Holzhaus, innen aber ganz hübsch als Operettenbühne adaptiert, dient der Aufführung von Werken, die - wie in früheren Zeiten - für das gerade vorhandene Personal unter besonderer Berücksichtigung der beschränkten Ausstattungsmöglichkeiten sozusagen ad usum Delphini komponiert werden. Daß dabei noch etwas ganz Brauchbares herauskommt, spricht für die Begabung von Autor und Regisseur; auch der Kapellmeister des begleitenden Schülerorchesters hatte reichen Anteil am Gelingen; bekanntlich ist eine Haydn-Symphonie noch immer leichter ohne Schmiß zu spielen, als eine gesungene Tanznummer zu begleiten. Textdichter und Komponist sind Brüder, das Werk also sozusagen Familienangelegenheit. Die Handlung ist nicht so leicht erzählt, weil sie eigentlich gar nicht vorhanden ist.

Ich stehe wieder oben auf einer der zierlichen Terrassen des Serails, den Bosporus und die zartesten Silhouetten dieser wunderbaren Märchenstadt vor mir, die auf Hügeln erbaut ist wie Rom. Die Sonne scheint so warm wie bei uns im September, und aus den umliegenden Gärten steigen Düfte von unbekannten Nadelhölzern und Sträuchern auf, "Arome des Orients", um mit Rilke zu sprechen. Hier, an der Grenze von Europa und Asien, wirken sich alle Kontraste fremder Kulturen besonders bedeutsam aus. Am Ufer des Meeres steht ein blinder Bettler und spielt auf der Flöte; ein kleines, reizvoll apartes Tanzstück mit melancholischem Einschlag; man könnte es, wie es ist, sofort als Glanznummer einem abendländischem Ballett einfügen. Vor Jahren war er tanzender Derwisch und durfte - weil er blind war - sogar in Harems seine anatolischen Weisen vorblasen. Nun steht er noch immer da mit seiner Musik aus einer anderen Welt. Stambul wird eine ganz moderne Großstadt, daran ist nichts mehr zu ändern. Aber jener dunkle Sehnsuchtston Asiens in der Kunst, das unbeschreiblich geheimnisvolle Klingen aus der Urheimat der Menschen soll weitertönen, auch in unserer Zeit, als wertvollster nationaler Besitz des Volkes.

Stadt, Volk, Musik und Theater in der neuen Türkei

Erwachendes Interesse für die Wiener Tonklassiker

Die Türkei steht wieder einmal im Mittelpunkt des Interesses. Man hört von neuen Plänen, Absichten, Organisationen, Kunstinstituten, an denen Europa nicht nur ideell beteiligt sein soll, sondern auch praktisch, insofern Engagements tüchtiger Kräfte in Aussicht stehen und wohl auch perfekt werden dürften, wenn die Aktion zur Förderung musikalischer Entwicklung energisch einsetzt. Das Anbot ist auch auf diesem Gebiete um vieles größer als die Nachfrage; die reisefertigen Kapellmeister allein würden numerisch ein Riesenorchester bilden; täglich laufen neue Anträge ein, es sind gute Namen darunter. Die Auswahl wird nicht leicht sein. Viele sind sich wohl auch der großen Schwierigkeit und Verantwortlichkeit der ganz eigenartigen Aufgabe nicht voll bewußt und unterschätzen sie, meinen, ohne jahrelange Erfahrung leichter Hand alles zu leisten.

Dies entspringt wohl hauptsächlich einer großen Unkenntnis der türkischen Verhältnisse überhaupt. Gibt es doch noch eine Menge Leute, die heute noch ganz ernsthaft fragen, wie man in der Türkei eigentlich wohne - sie vermuten in Zelten oder baufälligen Baracken. Wenn ich dann erzähle, daß beispielsweise zwischen dem Hotelleben Wiens und Istanbuls, abgesehen vom Menü und der Umgangssprache der Kellner, kaum ein Unterschied zu merken sei, daß es Aufzug, Badezimmer, Warmwasserleitung, Telephon neben dem Bett und alle anderen Bequemlichkeiten gibt, lächeln sie beinahe ungläubig. Auch daß der Straßenverkehr bis tief in die Nacht hinein an Lebhaftigkeit und Fülle an große süditalienische Städte erinnert, erscheint als optimistische Übertreibung. Jedenfalls habe ich selten solche Kolonnen der prachtvollsten Autos gesehen wie gerade in Istanbul, das im modernen Viertel ganz den Eindruck einer europäischen Metropole macht. Kinos mit dröhnenden Lautsprechern und riesigen Lichtreklamen vervollständigen diesen Eindruck.

Drüben, auf der anderen Seite der Stadt, in Beyasit oder Fatih ist es natürlich anders. Da stehen die wunderbaren alten Moscheen, umgeben von Holzhäusern mit der charakteristischen türkischen Architektur, vielgestaltig locken geheimnisvoll enge Gassen, halbverfallene Prachtbauten geben dem Ganzen ein phantastisches Gepräge. Hier gibt es noch ursprüngliches Volkstum, alttürkisches Wesen, auch die alte Musik gedeiht hier weiter und treibt ganz seltene Blüten.

Immer wieder werde ich gefragt, ob der Türke musikalisch gut begabt sei; und ich antworte: zweifellos! Freilich ist die türkische Musik von der unseren grundverschieden. Sie ist einstimmig und hat keine Harmonie, bringt also Melodien mit Schlagzeugbegleitung, die stellenweise den Rhythmus markiert. Das Ensemble besteht aus Geige, einem kleinen Cello, das beim Spielen aufs linke Knie gestellt wird (ein türkisches Nationalinstrument), Flöte, auch Klarinette, mehreren türkischen Lauten in verschiedener Stimmung und Tonlage mit merkwürdig gebogenem Hals, und einem Sänger, der die Melodie der Instrumente mitsingt. Oktavenverdopplungen oben und unten bringen Abwechslung in den Klang. Es gibt religiöse und andere Kunstmusik sowie Volksmusik. Manche Stücke sind gegen zweihundert Jahre alt oder noch älter und wurden in höchst komplizierten Niederschriften festgehalten. Der Europäer versteht anfangs so wenig davon wie der Türke von der europäischen Musik, die ihm wegen der ungewohnten Harmonie und Vielstimmigkeit wie ein gräuliches Durcheinander vorkommt. Die Türken haben über hundertfünfzig Tonleitern; wir empfinden dabei gewöhnlich ein modifiziertes Moll, seltener Dur. Die Stücke sind häufig in komplizierten Taktarten (Dreiviertel- und Dreiachteltakt hintereinander als gemeinsamer Neunachteltakt notiert, Zehnachteltakt und andere) notiert und durch Synkopen und Bindungen sowie durch ungewohnte Motivrückungen für unser Ohr äußerst kompliziert und schwer aufzufassen. Der Europäer merkt sich eine Bach-Fuge bedeutend leichter auswendig als zwei Seiten dieser melodisch und rhythmisch erstaunlich diffizilen Musik. Deshalb muß er sich erst an die eigenartigen Feinheiten gewöhnen, um sie richtig zu genießen.

Die türkischen Melodien sind merkwürdig verschnörkelt und verziert; man muß unwillkürlich an unsere klassische Mordent-Technik denken. Manche dieser trillerartigen Nebennoten sind Vierteltöne. Merkwürdig noch, daß die Sänger und Spieler auf dem Miniaturcello die Holzbläserklangfarbe und Spielart so nachahmen, daß man bei Radioübertragung auf Momente im Zweifel sein kann. Darin scheint eine Stileigentürnlichkeit des Vortrages zu liegen. Der Inhalt dieser Musik ist Sehnsucht religiöser Natur oder wohl auch die Natursehnsucht asiatischer Steppen, Liebessehnen, das sich zu exotischen Tanzstücken formt. Nach und nach fand ich, daß diese Musik fabelhaft zur orientalischen Baukunst paßt - und zum orientalischen Menschen.

Es ist nun Aufgabe der musikalischen Neuorganisation, vor allem die harmonische Seite der europäischen Musik populär zu machen und eine passende, dem Wesen und Stil der türkischen Volksmusik entsprechende Begleitharmonik zu finden. Das kann nicht auf dem Wege der Verordnung geschehen, sondern dadurch, daß türkische Musiker, die in ihrer Heimatkunst trefflich Bescheid wissen, die europäische Technik der Harmonie erlernen und später vermutlich sogar polyphone Bildungen unter Benutzung volkstümlicher Motive versuchen. Wie sich diese Kunst entwickeln wird, läßt sich nicht sagen; es hängt von der Stärke, Originalität und dem Können der türkischen Komponisten ab. So haben ein paar ausgesprochene Begabungen wie Kemal Reschit und Ferit Hasan mit Erfolg begonnen, nationale Musik zu schaffen.

Die Grundlagen dieser neuen Kunst bilden also einerseits alte türkische Volksmusiken, anderseits harmonisch formale Errungenschaften, wie sie einzigartig klar in den unsterblichen Werken der Wiener Klassiker vorliegen. Man hofft, daß sich aus der Verbindung dieser beiden ursprünglichen Elemente eine neue türkische Tonkunst entwickeln wird. Insofern die orientalischen Musiken einstimmig und oft auch unharmonisch erfunden sind, begegnet die Vereinigung gewissen Schwierigkeiten. Auf das harmonische Element könnte die orientalische Musik auf die Dauer keinesfalls verzichten, wenn sie konkurrenzfähig neben anderen europäischein Musiken auftreten will, was ja in der Absicht der Neuregelung der musikalischen Belange in der Türkei liegt. Gerade dieses Anfangsstadium der neuen Entwicklung ist besonders wichtig, weil sich die Richtung des Ganzen daraus ergeben wird, weshalb sich jede willkürliche Beeinflussung dieses schöpferischen Prozesses, jedes rationale Element als höchst störend erweisen würde. Nach Festlegung der allgemeinen Direktiven soll die Kunst dann von selbst wachsen.

Die Türken stecken noch tief in ihrer alten, einstimmigen Musik; man hört sie auf der Straße, in Gasthäusern, in den Kasernen gesungen. Es wird nicht leicht sein, daneben der europäischen Kunst Eingang zu verschaffen und sie so zu popularisieren, wie es für die musikalisch künstlerische Entwicklung des Volkes günstig wäre. Das harmonische Hören, die Polyphonie bieten Probleme verschiedenster Art. Wichtig ist nun, Gelegenheiten zu schaffen, bei denen die europäische Musik mehr als bisher Interesse erweckt. Das Theater ist dazu noch geeigneter als das Konzert, das aus Gründen mangelnden Verständnisses anfangs öfters leer sein dürfte, während das stoffliche und rein optische Interesse an der Schaubühne auch auf den Besuch günstig einwirkt. Mit kluger Überlegung will man deshalb gleich mit Theaterkultur beginnen und so das Volk gleichzeitig musikalisch erziehen.

Das genügt natürlich nicht allein; eine Anzahl neuer Institutionen und Gesetzesverordnungen wird die Musikpropaganda in der Türkei fördern, und bei der Energie und Planmäßigkeit, mit der die türkische Regierung dabei vorgeht, ist zu hoffen, daß in verhältnismäßig kurzer Zeit die Wiener Klassiker als Kulturfaktor in der Türkei eine ebensolche Rolle spielen werden wie in anderen Ländern, wo die Musik schönste Anregung und edelste Erholung des Volkes bedeutet.

Musikleben in Istanbul

Hundertmal fragt man mich nach dem Musikbetrieb in Istanbul; "Gibt es dort Oper und Konzerte? Konservatorien und Hausmusik? Ist der Türke musikalisch begabt, und welche Komponisten bevorzugt er?" Die folgenden Ausführungen geben darauf Antwort. Auch in der Türkei unterscheidet man streng zwischen geistlicher und weltlicher Musik, sowie Kunstmusik und volkstümlichen Schöpfungen. Uralte Moscheengesänge und Instrumentalsätze, deren Melodie oft auch an Text gebunden ist, wurden in geheimnisvoller Schnörkelschrift überliefert und in den letzten Jahren als Publikation des Konservatoriums in unseren gebräuchlichen Schlüsseln veröffentlicht. Einen dicken Band anatolischer Volkslieder besitze ich in meiner Bibliothek. Bis in unsere Zeit erhielten sich auch theoretische Abhandlungen über orientalische Kompositionsweise, deren älteste bereits tausend Jahre alt ist. Die Musik wurde in der Moschee als heiliger Gesang, gewöhnlich leidenschaftlichen Charakters, selbst als ekstatischer Derwischtanz gepflegt. Bei kirchlichen Festen kann man im Orient fesselnde Eindrücke erleben; der geistliche Ausdruckstanz ist in der Türkei vor einigen Jahren abgeschafft worden. Die weltliche Kunstmusik fand in den sogenannten Sultansmusiken, das waren Lieder und Tänze für den Harem, eine sorgfältige Pflege. Aber auch Vortragsstücke im Sinne der absoluten Musik brachten diese Kunstbestrebungen auf bemerkenswerte Höhe.

Diese Musikstücke und Lieder sind einstimmig, also rein melodisch, meist in ungewöhnlichen Taktarten (Fünfviertel, Zehnachtel) erfunden und zeigen motivisch eine eigenartige, für den Abendländer schwer zu erfassende Gliederung. Der Aufbau ist oft kunstreich und phantasievoll im Weiterentwickeln der Einfälle. Manchmal denkt man beim Betrachten des Notenbildes unwillkürlich an die einstimmigen Sonaten früherer Jahrhunderte. Die türkische Musik hat über hundert Tonarten, deren Beziehungen recht verwickelt sind. Wir hören sie als exotisches Moll, das überhaupt die Grundstimmung abgibt; doch gibt es reizende, einfach gebaute, lebhafte anatolische Volkslieder in Dur, denen wir viel Geschmack abgewinnen, während die kunstvollen Verzierungen, der psalmodierende Charakter und die sehnsüchtig trübe Stimmung der überwiegend langsamen, ernsten Gesangstücke leicht den Eindruck einer gewissen Eintönigkeit hervorrufen. Die Melancholie der asiatischen Steppe sowie eine zurückgedrängte leidenschaftliche Sehnsucht, die nur gelegentlich in wilden Tänzen gipfelt, bilden die Grundstimmung der türkischen Musik. Deshalb ist auch Chopin in der Türkei so beliebt.

In Vortrag, Klangfarbe, Charakter scheint die Vorstellung asiatischer Steppensehnsucht, auf einem melancholischen, uralten Blasinstrument zum Ausdruck gebracht, in allen Zweigen des Musikbetriebes zu überwiegen. Die Sänger pressen die ganze Stimme in Hals und Nase, ihre Stimme klingt dadurch wie eine verstimmte Oboe (weil sie auch Vierteltöne kennen). Ebenso ist das kleine Geigencello, das man beim Spielen am Schenkel aufsetzt und anstreicht wie die Kniegeige, im Klang einiger Töne, besonders im Radio, nur schwer von einer Oboe zu unterscheiden. Andere nationale Streichinstrumente lassen sich zu einem türkischen Streichquintett von ganz eigenartigem Klangcharakter zusammenstellen.

Die einstimmigen Kompositionen werden je nach Bedarf in höheren und tieferen Oktaven von Streichern, Bläsern und Singstimmen verdoppelt; oft geben allerlei Schlaginstrumente einen wild verwegenen Takt dazu, den sich der Europäer nur schwer angewöhnt, während ihn jeder türkische Soldat im Kaffeehaus mit den Händen auf die Schenkel schlägt. Überhaupt sind diese türkischen Melodien für uns nicht leicht zu behalten, weil sie der europäischen Grundlage der Harmonie entbehren. Dann sind unsere Schlager recht einfach aus Zweitaktgruppen mit übersichtlicher metrischer Gliederung gebildet, während volkstümliche türkische Melodien dem Gedächtnis keinerlei regelmäßige Anhaltspunkte bieten. Trotzdem pfeifen sie die Soldaten auf der Straße und die Gäste der Nachtlokale am Bosporus singen sie mit erstaunlicher Sicherheit. Ich verfolgte einmal die Probe eines türkischen Collegium musicum, das stundenlang auswendig sang und spielte, mit den Noten in der Hand und wunderte mich nicht wenig, wie die alten Herren diese rhythmisch komplizierten, melodisch einförmigen Melodien, bei denen manchmal dieselben sieben Töne fortwährend ohne irgendwelche formale Anhaltspunkte ihre gegenseitige Lage ändern, tadellos richtig auswendig wußten. Ein Beweis für die Musikalität des Volkes.

Da die Türkei bis in die neuere Zeit ohne Anschluß an die europäischen Kulturerrungenschaften lebte und erst in den letzten Jahren einen gewaltigen Schritt nach vorwärts tat, haben es dort die fortschrittlich gesinnten Musiker nicht leicht. Noch immer hängt man an der alten Musik, empfindet die Harmonie als überflüssig und störend. Das Volk hört am liebsten seine alten Lieder, beliebte Melodien zum Schwert- und Bauchtanz, dann wohl auch anatolische Volksweisen. Hochschüler vertreiben sich die Zeit mit häuslicher Aufführung von Tänzen im Kostüm mit nationaler Musik. Man dreht das Radio am liebsten auf, wenn türkische Lieder gesungen werden, und es gibt Primadonnen dieser Kunst wie in Italien. So wird es noch geraume Zeit dauern, bis sich ein geordneter europäischer Musikbetrieb durchgesetzt hat, wie ihn die Regierung wünscht.

Mit Konzerten war da nicht viel zu holen; das große Publikum ging nur hinein, wenn es sich um einen berühmten Namen handelte, und hatte nicht die Erfahrung, um dem Gebotenen mit richtigem Verständnis zu folgen. Erst häusliche Betätigung durch Erlernen eines Musikinstruments, Pflege der Tonkunst durch genaue Kenntnis der Literatur und ästhetische Bildung erziehen den gebildeten Musikhörer. In richtiger Wertung dieser Tatsache hat die türkische Regierung Musikschulen gegründet, junge Begabungen nach Europa zur Ausbildung geschickt und stellt sie nun als Lehrer an. Ausländer werden berufen und ich hatte mehrfach Gelegenheit, das Engagement österreichischer Musikpädagogen durchzusetzen. Im nächsten Jahr wird man mit einem kleinen Konservatoriumsorchester fortlaufend Konzerte mit Werken unserer Klassiker veranstalten. Aber auch Kammermusikabende werden von den Lehrern veranstaltet, ferner Schülerabende, um zu zeigen, was die Jungen leisten. Jetzt spielen sie bei Prüfungen bereits ihren Bach, Mozart, Beethoven, Schumann, Chopin auswendig, was immerhin Leistung bedeutet. In einigen Jahren wird diese Millionenstadt hoffentlich eine Musikstadt werden, deren Betrieb sich sehen lassen kann, nicht eine Station für internationale Berühmtheiten wie früher, wo sich ab und zu ein Geiger auf der Reise von Kairo nach Jerusalem noch rasch zu einem Auftreten entschloß. Einige bemerkenswerte kompositorische Begabungen sind um eine nationale türkische Musik bemüht und suchen melodische Eingebungen der Volksmusik symphonisch zu verwerten. Auch hervorragende türkische Instrumentalisten besitzt die Stadt, und die Künstler werden sich in der nächsten Saison in Wien, Paris hören lassen. Hoffen wir, daß die gegebene Entwicklung anhält und erstarkt, dann haben wir in ein paar Jahren auch einen fremdartig schönen neuen Klang des fernen Orients im europäischen Konzert.

Quelle:
Der obige Text ist dem folgenden Buch entnommen: "Joseph Marx: Betrachtungen eines romantischen Realisten - Gesammelte Aufsätze, Vorträge und Reden über Musik", S. 500-521 (herausgegeben von Oswald Ortner, Gerlach & Wiedling, Wien, 1947)



Zurück zur Biographie

Zurück zum Werkverzeichnis


http://www.joseph-marx.org/   © 2001-2006 Berkant Haydin     Besuche: Kostenloser Counter von Internet Service Dienste