Deutscher Booklet-Text (Beiheft) zur Marx-CD Volume 2 ("Die Orchesterlieder"; ASV CD DCA 1164), gesungen von Angela Maria Blasi (Sopran) und Stella Doufexis (Mezzosopran)

Betrachtet man Joseph Marx (1882-1964) als reinen Liederkomponisten, sieht man in Wirklichkeit nur die Spitze eines Eisbergs. Denn der hochgebildete und weltgewandte Tonkünstler aus Graz hat neben seinen rund 150 Liedern nicht nur ein beachtliches Oeuvre im Bereich der Orchester-, Kammer-, Klavier-, Orgel- und Chormusik hinterlassen, er genoß über sehr lange Zeit auch hohes Ansehen als einer der aktivsten Musikfunktionäre, Kompositionslehrer und Musikkritiker der mitteleuropäischen Spätromantik des 20. Jahrhunderts.

Dennoch steht außer Frage, daß Marx seine beispiellose Karriere in Wien und seinen internationalen Ruhm ursprünglich dem ungeheuren Erfolg seiner Klavierlieder zu verdanken hatte. Einen Großteil der Lieder, die später von Lotte Lehmann, Ljuba Welitsch, Elisabeth Schumann, Arleen Auger, Hermann Prey und vielen anderen gesungen wurden, schrieb er noch vor seinem 30. Lebensjahr, zur Zeit seiner Promotion an der Grazer Universität zum Doktor der Philosophie. Nichtsdestotrotz offenbart sich hier bereits sein eigener Stil, der von komplexer, farbschillernder Harmonik und einem beeindruckenden Melodienreichtum geprägt ist. Sicherlich stehen seine Lieder denen von Richard Strauss nahe, doch Marx verwendet bereits eine etwas modernere Tonsprache, die oft an Arnold Bax oder an Werke seiner Freunde Franz Schreker und Erich W. Korngold erinnert und bisweilen auch Gemeinsamkeiten mit amerikanischen Komponisten wie Charles M. Loeffler oder europäischen Vertretern wie Vitezlav Novak und Ottorino Respighi erkennen läßt.

Unter den Künstlern, die ungefähr zur selben Zeit eine Brücke von der Spätromantik zum Impressionismus geschlagen haben, gehört Marx sicherlich zu den interessantesten Erscheinungen. Bereits seine ausgezeichneten Klavierstücke von 1916 zeigen anschaulich die Diskrepanz zwischen seiner hochromantischen Ader und den von ihm häufig eingesetzten, deutlich moderneren Ausdrucksformen. In der vorliegenden Einspielung wird dies hauptsächlich in der fast zwei Jahrzehnte nach seinem "Liederfrühling" entstandenen Liedersymphonie Verklärtes Jahr (1930-32) deutlich.

Diese unterschwellige Affinität zum Modernismus mag ein wenig erstaunen, denn als Kritiker und Pädagoge hat Marx bekanntlich eine einflußreiche Rolle als Bewahrer der musikalischen Tradition gespielt. Dabei war er übrigens in bester Gesellschaft, denn viele seiner Zeitgenossen der tonalen Musik machten aus ihrer Abneigung gegen die Atonalität und Zwölftontechnik ebenfalls kein Geheimnis. So bezeichnete beispielsweise Delius - eines von Englands musikalischen Pendants zu Joseph Marx - Schönbergs progressiven Stil als "atonale Häßlichkeit".

Wie dem auch sei, zeigt das eingehende Studium des Marxschen Gesamtoeuvres insbesondere im direkten Vergleich mit den obengenannten stilverwandten Komponisten, daß er - entgegen einem hauptsächlich in Österreich und Deutschland noch weitverbreiteten Irrtum - keineswegs ein erzkonservativer oder gar reaktionärer Komponist war. Vielmehr bringen seine Werke die große Spannbreite seiner musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten zum Vorschein und weisen ihn als einen der letzten großen Vertreter der noch im 19. Jahrhundert geborenen Komponistengeneration aus, die zwar von moderneren Strömungen beeinflußt wurde, der Tonalität jedoch stets treu geblieben ist.

Auf Anfrage von Künstlern oder Orchestern und sicher auch in der Absicht, die Aufführungshäufigkeit seiner Werke zu erhöhen, arrangierte Joseph Marx ungefähr 20 seiner Lieder mit Orchester- bzw. Streicherbegleitung. In dieser Form wurden sie von Dirigenten wie Nikisch, Alwin, Loewe, von Hausegger, Krauss und Horvat aufgeführt. Dennoch stellen die Orchesterlieder im Gegensatz zu den recht häufig gespielten Klavierliedern geradezu Raritäten dar, die mit Ausnahme des Marienliedes noch nie zuvor auf Tonträger erschienen sind. Taucht man in diese opulente Klangwelt ein, entdeckt man bald, mit welch enormem Gespür Marx die Texte vertont und den häufig sehr anspruchsvollen Klavierpart orchestriert hat. Ohne Zweifel gehören diese Werke zum Schönsten, was Joseph Marx je geschaffen hat.

"Hat Dich die Liebe berührt" (1908, nach Heyse) ist eines der frühen Lieder des Komponisten und zugleich eines der berühmtesten. Jeder Akkord in diesem meisterhaft durchkomponierten Werk trägt den Affekt des Liebesverlangens in sich.

Die Sehnsucht als stets wiederkehrendes Motiv finden wir bei Marx auch in "Waldseligkeit" aus dem Jahre 1911 (nach Dehmel) und in dem von Novalis gedichteten "Marienlied" (1909). Der Orchesterpart des letzteren wurde als Filmmusik in dem 1950 entstandenen Drama "Cordula" verwendet, ebenso einige instrumentale Anklänge aus "Hat dich die Liebe berührt".

Eine spezielle gesangstechnische Schwierigkeit fordert die Sopran-Stimme in "Selige Nacht" (1912, nach Hartleben) heraus: Einige Töne liegen im Bereich des Passagio (Registerbruch) und sind daher mit Transparenz und Feingefühl vorzutragen. Interessanterweise wurden mehrere von Marx vertonte Texte auch vom Schönberg-Kreis verwendet. So basiert beispielsweise "Selige Nacht" auf demselben Text, den Alban Berg für eines seiner "Sieben Frühen Lieder" benutzt hatte.

Die ausgedehnte "Barkarole" nach v. Schack (1909) ist für ein vergleichsweise großes Orchester geschrieben und könnte einen eigenständigen "Symphoniesatz" mit obligater Singstimme bilden. Dieses herrliche Stück hätte wohl ebenfalls als Filmmusik Verwendung finden können. Obwohl Marx gewiß einer der größten Melodiker seiner Zeit war, ist er als einer der führenden österreichischen Vertreter der ernsten Musik nie im Bereich des Films aktiv gewesen, hat aber dafür viele spätere Größen der Unterhaltungs- bzw. Filmmusik unterrichtet.

Von Gefühlen der Heiterkeit durchdrungen ist das "Sommerlied" (1909, nach Geibel), gleichsam wie das berühmte "Japanische Regenlied" (1909). Das letztere läßt sich formal-charakterlich mit "Hat dich die Liebe berührt" vergleichen, das ebenfalls in Es-Dur steht. In Marxens Vertonung zu Geisslers "Zigeuner" (1911) - dem Pendant zu Hugo Wolfs "Zigeunerin" nach Eichendorff - erscheint der Frohmut fast schon leidenschaftlich. Hier wird in der zweiten Verszeile rhythmisch das traditionelle Hochzeitslied zitiert. Auch wenn Marx bekanntlich nie Bühnenwerke schrieb, scheinen einige seiner Lieder nahezu in das Operettenhafte abzuschweifen. Am deutlichsten spürbar ist dies in dem erheiternden Lied "Der bescheidene Schäfer" (1910, nach Weisse). Ganz anders dagegen die 1909 entstandenen, ernsthaft-tiefgründigen Lieder wie "Maienblüten" nach Jakobowski, das wuchtig aufschwingende "Jugend und Alter" sowie die stark an Schumann angelehnte "Erinnerung" (nach Eichendorff).

Bereits in frühester Kindheit hatte Marx die Vielfalt der mediterranen Landschaften kennengelernt (seine Großmutter war gebürtige Italienerin). Später folgten ausgiebige Italienreisen. Das ernste, sehnsuchtsvolle "Piemontesische Volkslied" (1911, nach Geissler) scheint das ein Jahr später entstandene "Italienische Liederbuch" anzukündigen. So beschäftigte sich Marx ebenso wie Hugo Wolf mit den bedeutenden Versen von Paul Heyse, vertonte jedoch genau jene Gedichte, die Wolf ausgelassen hatte. Marx ist hier mit der Ausgestaltung des Klaviersatzes vergleichsweise sparsam umgegangen. Aus seinem "Italienischen Liederbuch" sind hier vier dieser Miniaturdramen eingespielt: "Ständchen", "Die Liebste spricht", "Sendung" und "Venetianisches Wiegenlied".

Kurz vor seiner Berufung in die Türkei als Regierungsberater beim Aufbau des türkischen Musiklebens schrieb Marx den fünfteiligen Zyklus "Verklärtes Jahr" (1930-32) für mittlere Stimme und Orchester. Dieses Werk, das im Februar 1932 in Wien unter Robert Heger uraufgeführt wurde, bildet ohne Zweifel den Höhepunkt seines gesamten Vokalwerkes. Rein formal offenbart "Verklärtes Jahr" bereits Marxens klassizistische Tendenz aus seinen späteren Kompositionen; gleichwohl erklingen musikalische Zitate aus seinen vorherigen Orchesterwerken, so z.B. aus der "Natur-Trilogie". Neben einer Wesensverwandtschaft mit Respighis fünfteiligem Orchesterliedzyklus "Deitą silvane" ("Waldgottheiten") oder den "Three Poems of Fiona MacLeod" des Amerikaners Charles T. Griffes fällt insbesondere die Titelgebung auf, die kurioserweise an Schönbergs "Verklärte Nacht" angelehnt ist.

"Verklärtes Jahr" beginnt mit "Ein Abschied". Bereits in den ersten Takten verwendet Marx eines der Hauptthemen seiner "Herbstsymphonie" von 1921. Fofanows düstere und zugleich von Sehnsucht erfüllte Textvorlage wird hier von Marx kongenial umgesetzt.

"Dezember" (nach Kernstock) widmete der Komponist seinen Eltern sowie Anton Jahn, dem Vater seiner Lebensgefährtin Anna Hansa. Die Partitur ist von ungewöhnlicher Zartheit und gipfelt in einer geradezu entrückten Vision der Ankunft des Christkindes.

Der pentatonische Aufschwung zu Beginn von "Lieder" (nach Morgenstern) kann mit dem Anfang seines zweiten Klavierkonzerts "Castelli Romani" (1929-30) verglichen werden. Zudem ertönen motivische Anklänge an seine "Frühlingsmusik" von 1925. "Lieder" erscheint wie eine letzte musikalische Rückschau in eine überschwenglich-ekstatische Jugend.

"In meiner Träume Heimat" (nach C. Hauptmann) enthält gleich zu Beginn eine motivische Verbindung zu dem in der gleichen Tonart geschriebenen "Hat Dich die Liebe berührt". Auch zum Ende hin wird das reizvolle Hauptthema dieses frühen Marx-Liedes erneut zitiert.

"Auf der Campagna" ist das einzige Vokalwerk des Komponisten, das auf einem von ihm selbst gedichteten Text basiert. Im Instrumentalpart erklingen erneut Anspielungen auf "Castelli Romani". Angeregt durch eine Italienreise, schrieb er diese hinreißende Liebeserklärung an seine zweite Heimat. Mit einer geradezu berauschenden Klangfülle erzählt dieses reife Werk von der Vergänglichkeit und der ständigen Wiederkehr von Schönheit und Harmonie. Dies ist die Musik eines tiefgründigen Lyrikers und sehnsuchtsvollen Optimisten, der seine nie versiegende Daseinsfreude mit anderen teilen möchte. So nimmt Joseph Marx als Mystiker des Glücks zweifellos einen ganz besonderen Platz in der Musikgeschichte ein.

© Berkant Haydin & Martin Rucker



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